Resignation ist die falsche Antwort auf den Überwachungsskandal um Prism, Tempora & Co. Wenn das Internet ein Werkzeug der Kooperation und Kommunikation für alle bleiben soll, sind politische Antworten gefragt. Ein Gastkommentar von Jürger Geuter.
Die Enthüllungen über die Geheimdienstprojekte Prism und Tempora haben viele Menschen in einen Schockzustand versetzt – durch den Umfang der Überwachung im Netz, durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie durchgeführt werden.
Johnny Haeusler schreibt auf Spreeblick:
Wir werden viel mehr für uns behalten. Denn wir können nicht mehr flüstern im Internet. Und der Traum vom grenzenlosen Menschheitsnetz, dessen gesammelte Offenheit auf Dauer für mehr Empathie und Transparenz sorgt, er ist ausgeträumt, fürchte ich.
Widersprecht mir. Bitte.
Das grenzenlose Menschheitsnetz ist längst Alltag
Die Resignation ist verständlich. Aber ich lese die aktuellen Entwicklungen anders: Das Netz ist nicht kaputt. Es hat sich nur eine elitäre Sicht auf das Netz als einem Paradies der Wissenschaftler, Künstler, Intellektuellen und Kreativen, wie sie Internet-Vordenker John Perry Barlow in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” entwarf, nicht bewahrheitet. Denn das Internet ist mittlerweile – zumindest in den westlichen Ländern – zum selbstverständlichen Alltag vieler Menschen geworden; es ist Mainstream. Doch gerade damit ist es viel näher am „grenzenlosen Menschheitsnetz”, das die Internet-Pioniere sich erhofften, als noch vor wenigen Jahren.
Deshalb drängen die, die bisher in der analogen Welt große Macht und Einfluss haben, so stark darauf, das Internet zu regulieren und sein disruptives Potential zu bändigen. Das ist ein Beweis für die Relevanz des Netzes und die Furcht derer, die ihre Macht und Kontrolle bedroht sehen. Gleichzeitig bietet sich eine große Chance: Etablierte Ideen können jetzt neu verhandelt werden. Wozu braucht es Geheimdienste? Prism und andere Programme bringen die Frage neu aufs Tableau, was sich ein Staat seinen Bürgern gegenüber – und denen, die nicht seine Bürger sind – erlauben kann.
Wir haben die Wahl zu mehr Offenheit
Dass wir uns nur noch zwischen Tempora, Prism und ähnlichen Projekten entscheiden können, dass solche Geheimdienstprojekte ab jetzt einfach zum Leben dazugehören, ist fatalistisch und falsch. Wir haben eine Wahl – die Wahl dazu, andere zu überzeugen und mitzunehmen, Werte zu erklären und vorzuleben.
Prism und die weiteren Sicherheits- und Überwachungsprogramme wurden im Namen des „Krieges gegen den Terror” installiert, ein Krieg, der sich schon lange verselbständigt und entleert hat. Guardian-Journalist Gleen Greenwald kommentierte Reaktionen auf die Prism-Enthüllungen mit den Worten: „Es muss nett sein an der Regierung. Wenn man bei schlimmen Dingen ertappt wird, schreit man solange ‚Terrorismus’, bis es wieder vorbei ist.”
Eine andere Reaktion ist seltener. Nach den Anschlägen von Oslo und Utøya, die 2011 Norwegen und die Welt schockierten, kommentierte der norwegische Ministerpräsident Stoltenberg Forderungen nach mehr Sicherheitsmaßnahmen und mehr Überwachung: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“ Die Werte unserer freiheitlichen Gesellschaft können wir nicht im Geheimen verteidigen.
Der Rückzug in mehr Geheimnisse, mehr Kryptographie und mehr Darknet ist für die Eliten im Netz, die solche Technologien einsetzen und verstehen können, bequem. Doch er ist keine Strategie für eine freiheitliche Gesellschaft. Das Netz ist ein Werkzeug der Kooperation und der Kommunikation für jeden. Je mehr wir uns aus dem sichtbaren, dem öffentlichen Teil des Internets – und damit aus der Debatte selbst – zurückziehen, desto mehr stärken wir die, die Misstrauen zwischen den Menschen sähen und diffuse Ängste schüren, um ihre eigene Position zu stärken.
Geheimdienste sind Fossilien der Verschlossenheit
Ein grundsätzliches Problem der aktuellen Diskussion ist, dass Geheimdienste allem widersprechen, was heute von staatlichen Einrichtungen zurecht gefordert wird. Open Data und Informationsfreiheit sind Forderungen, um Macht zu kontrollieren, Probleme zu lösen und jedem Bürger zu erlauben, sich an wichtigen Debatten fundiert beteiligen zu können. Geheimdienste sind die Antithese dazu. Sie sind offensichtlich unkontrollierbar, entziehen sich jeder Beobachtung und Rechtfertigung. Sie gehören nicht mehr in unsere Gegenwart und erst recht nicht in unsere Zukunft.
Das Internet ist nicht kaputt, es ist angekommen. Wir können das Gute, das wir im Internet erlebt haben, in die physische Welt übertragen und anderen Menschen ermöglichen. Indem wir mutig sind und kämpferisch, indem wir unseren Mitmenschen ein Beispiel dafür sind, dass in Kooperation mehr Wert für uns alle liegt als im Misstrauen. Verlieren können wir nur, wenn wir uns zurückziehen und den alten Machtstrukturen das Feld überlassen. Die Aufgabe ist jetzt, für mehr Freiheit, Offenheit und Teilhabe politische Mehrheiten zu schaffen.
Jürgen Geuter lebt und arbeitet in Oldenburg und dem Internet. In letzterem ist er als @tante bekannt. Lizenz dieses Artikels: CC BY-SA.
Update: Lesen Sie zum Thema auch die Replik von Lorenz Matzat.